Nun ist das Gejammere groß: Der Nachwuchs scheint missraten und schuld daran sind die Helikoptereltern. So, so. Aber so ist es am einfachsten, immer mit dem Finger auf andere zu zeigen. Dabei
sollte sich genau die ältere Generation, die diesen Missstand beklagt, an die eigene Nase fassen. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil die Kinder der Helikoptereltern noch auf dem
Wickeltisch liegen oder maximal KITA und Schule besuchen. Mit anderen Worten, sie sind für den sogenannten Arbeitsmarkt noch gar nicht relevant. Ich erinnere mich noch sehr genau, als der ganz unsägliche Unsinn der sogenannten Bildungsreform nach der Wende
begann und ich als junge Mutter ohnmächtig dem Treiben zusehen musste. Und dabei war ich noch gut dran: Meine beiden Söhne, die genau zur Wende geboren wurden und Anfang der 90ger Jahre in
die Kinderkrippe bzw. Kindergarten kamen, konnte ich damals im Spatzenhaus in Schildow bei einer im Osten pädagogisch und instrumental ausgebildeten hochqualifizierten und engagierten
Kindergärtnerin anmelden, die die Kinder hervorragend und liebevoll auf die spätere Einschulung vorbereitete. Wie froh war ich, dass meine Söhne gerade noch rechtzeitig die KITA verließen,
bevor die Matsche-Büfetts, bei denen die Kinder sich Essen nehmen konnten, wann und wie sie wollten, eingeführt wurden, bevor die Abschaffung der gemeinsamen Beschäftigungszeit, bei denen die
Kinder spielend Feinmotorik, Sinnlichkeit und erste Vorschulkenntnisse erwarben und vor allem trainierten und übten, stattfand und bevor die komplette Entfernung eines geregelten Tagesrahmen
mit dem Erlernen und Trainieren von Tischsitten, betreuten Toilettengängen (im Kindergarten hatte kein Kind mehr Windeln um) sowie Gruppenarbeit unter Anleitung der Kindergärtnerin
einschließlich Vorschulbildung vorgenommen wurde. An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich beobachten lässt, dass inzwischen in den KITAs wieder mehr auf solche Tugenden Wert gelegt wird,
nachdem sich langsam herumgesprochen hat, was für verheerende Auswirkungen eine rahmenlose Kinderaufziehung zur Folge hat. Und so ging es damals immer weiter bergab. Seit der Wende wurden in
den Grundschulen Kuschel-und Spielecken in allen Klassenräumen eingeführt; das ständige Wiederholen und Üben, Üben, Üben von Erlerntem sowie die Wissensaneignung an den Gymnasien zugunsten
endloser psychologischer Experimente und Wechseln kunterbunter Lernmodelle abgeschafft. Von der Schulaufnahme bis zu den Examina in Schule, Lehre, Studium wurden die Anforderungen ständig
nach unten korrigiert, dies zuletzt noch einmal drastisch während der Corona-Pandemie. Parallel dazu prasseln die Medien im Internet alle möglichen und unmöglichen Ratgebereien und verhindern
mit ihrem digitalen Suchtpotential das elterliche Erspüren der kindlichen Bedürfnisse. Die Arbeitswelt trennt immer öfter räumlich Eltern und Großeltern, Elternteile wollen und müssen
inzwischen beide für den Broterwerb sorgen, so dass Kindererziehung zu immer größeren Anteilen zwangsläufig in öffentlicher Hand landet. Letztere leidet jedoch durch ständiges
Effizientisieren an chronischem Personalmangel, so dass der Ruf nach Privatisierung immer lauter wird. Doch gerade diese unterliegt noch viel stärker dem ökonomischen Zwang nach
Einsparmaßnahmen, sprich Personalreduzierung, und obendrein bestimmt an privaten Schulen nicht unwesentlich das Portemonnaie der Eltern die Zensurenvergabe. Inzwischen beschuldigen sich
KITAs, Grundschulen, Gymnasien, Handwerksbetrieb, Hochschulen, Eltern und Großeltern gegenseitig für den unqualifizierten Nachwuchs, der jetzt auf den Markt strömt und übersehen, dass die vor
Selbstbewusstsein strotzenden, exzentrischen Kinder der viel gescholtenen Helikoptereltern erst noch in einigen Jahren für Unmut sorgen werden. Was soll ‘s, letztere werden auch wieder Kinder
haben, auf die sich laut schimpfen lässt.
Carmen Hoyer, 10.08.2022
Carmen Hoyer, 10.08.2022